Steirische Kulturinitiative und Galerie Sigm. Freud präsentieren
Zwischenräume. Art Brut aus der Sammlung Hannah Rieger
Die Galerie Sigmund Freud zeigt erstmals Art Brut. Prof. Michael Lehofer, Psychiater: „Ziel unserer Ausstellung ist, dass Interessierte in Graz erstmals mit Art Brut in Berührung kommen.“ Als Kunst von Autodidakten aus der Peripherie der Gesellschaft findet Art Brut zunehmend weltweite Beachtung, beispielsweise auf der Biennale in Venedig.
Im Zwischenraum von Freuds Unbewusstem, Psychiatrie und zeitgenössischer Kunst ist Art Brut nur in ihrer extremen Individualisierung zu verstehen. Jeder Künstler und jede Künstlerin folgt einer „individuellen Mythologie“ (Harald Szeemann), d.h. schöpferischen Impulsen von innen, einer Mission, oft einer Obsession oder einer Vision. Der französische Künstler und Weinhändler Jean Dubuffet (1901 – 1985) fand für dieses Genre jenseits des Kunst-Mainstreams – durchaus in Analogie zum Champagner – den Begriff Art Brut.
Der Fokus ist auf die Qualität der Kunst gerichtet, auf die jeweils ganz eigene Formensprache und nicht auf den sozialen Status oder den psychischen Zustand der Künstler:innen. Manchmal ist der biografische Hintergrund nützlich, um Arbeiten zu verstehen (Biografien siehe www.livinginartbrut.com). Es handelt sich im wesentlichen um Kunst von Menschen mit Psychiatrieerfahrungen oder um Kunst sozialer Außenseiter.
Die Ausstellung wird von Nicole Pruckermayr, seit Februar Geschäftsführerin der Steirischen Kulturinitiative, kuratiert. Sie zeigt 47 Werke von 24 Künstler:innen aus 9 Ländern. „Uns ist wichtig, die Künstler:innen mit ihren ganz individuellen Lebensentwürfen zu respektieren und ihre großartigen Arbeiten möglichst niederschwellig einem breiteren Publikum sichtbar zu machen“.
Kunst aus Gugging – das österreichische Art Brut Modell – bildet mit 21 Arbeiten von 11 Künstlern und Laila Bachtiar einen Schwerpunkt.
Ohne Sigmund Freud und dessen Erkenntnissen über das Unbewusste wäre vermutlich das weltberühmte österreichische Art Brut-Modell als Männerabteilung einer psychiatrischen Klinik in Maria Gugging nahe bei Wien in dieser Form nicht möglich gewesen. Eine Kultur, in der das Unbewusste zählt und in der auch die Kunst aus der Peripherie mit dem Unbewussten in Verbindung gebracht werden kann, beachtet Integration und Teilhabe ganz besonders. Die von Leo Navratil 1981 initiierte Künstlerwohngemeinschaft (Haus der Künstler) in Gugging wurde 2007 aus der Psychiatrie ausgegliedert und in eine moderne Institution mit Kunstproduktion (Haus der Künstler und Atelier), Museum und Galerie transformiert.
Mit Oswald Tschirtner (1920 – 2007), einem der Gugginger Stars und dessen Kraft der Reduktion begann 1980 die Art Brut-Leidenschaft der Sammlerin Hannah Rieger. Die drei ausgestellten Zeichnungen zeigen typische Kopffüßler, zumeist Menschen, und ein Tier. Der Künstler war ein Meister der minimalistischen Bildsprache. Oswald Tschirtners Geschichte ist auch eine unternehmerische Erfolgsstory. Als Außenseiter, der gerne Priester geworden wäre, und Bewohner einer psychiatrischen Klinik und später Sozialhilfeeinrichtung, gelang es ihm als freischaffender Künstler, Teil des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems zu werden. Zu arbeiten und Geld zu verdienen, sind wesentliche Kriterien für Inklusion.
Laila Bachtiar (*1971) arbeitet seit 2003 regelmäßig im atelier gugging und ist mit sechs Arbeiten vertreten. Zeichnen ist ihre Berufung. Ihre Kompositionen, denen Ordnungen in Form netzartiger Strukturen aus Linien und Flächen zugrunde liegen, erzeugen eine dynamische Dichte ihrer Tiere, Selbstporträts oder Menschen ihrer Umgebung. So zeigt „Ramona“ die zeitgenössische Künstlerin Ramona Schnekenburger, die eine ihrer Betreuerinnen in Gugging ist. Laila Bachtiar kam als erste Frau und erste Artist in Residence bereits 1990 unregelmäßig in das Haus der Künstler in Gugging. Laila Bachtiar wird bei der Eröffnung der Ausstellung anwesend sein.
Die 1985 in Kuba geborene Misleidys Castillo Pedroso wird gegenwärtig von Paris über New York bis Gugging gehypt. Die Künstlerin entwickelt eine eigene Form der visuellen Sprache. Sie malt muskulöse, farbenkräftige Menschen in kleinen bis überlebensgroßen Formaten, die an Bodybuilder erinnern. Die fertigen Figuren oder auch Körperteile schneidet sie aus und bringt sie mit braunem Klebeband an die Wände. Sie sieht in ihnen vermutlich Freunde und Beschützer und arbeitet ausschließlich in einem familiären Kontext nahe von Havanna. Die Künstlerin war bereits früh nicht zuletzt aufgrund ihres stark reduzierten Hörvermögens sozial ausgegrenzt. Eine Institution, in die sie mit fünf Jahren kam, musste sie infolge von diagnostiziertem Autismus wieder verlassen.
Wer Künstler oder Künstlerin ist, wird permanent neu verhandelt. Da der Kunstmarkt von den sozio-ökonomischen Veränderungsdynamiken genauso betroffen ist, wie alle anderen Bereiche der Gesellschaft, wird auch die Kunst von der Peripherie mehr und mehr zum weltweiten Business. Die Grenzen zwischen Art Brut und der akademischen zeitgenössischen Kunst verschieben sich auch aus kommerziell-betriebswirtschaftlichen Überlegungen. In dem emanzipatorischen Bestreben nach Akzeptanz ist die historisch unverfälschtere Art Brut zunehmend in Gefahr, vom globalen Kunstmarkt vereinnahmt zu werden. Die Zwischenräume von gleichberechtigter Teilhabe und kritikloser Inbesitznahme sind eng geworden. Auch dadurch verwandeln sich die Perspektiven auf Art Brut permanent.
Hannah Rieger sammelt seit 1991 Art Brut und lebt in Wien und im Weinviertel. Ihre Sammlung zählt mit über 500 Werken zu den größeren spezialisierten Art Brut-Privatsammlungen in Österreich (www.livinginartbrut.com). „Es ist hoch an der Zeit, Art Brut in Graz zu zeigen. Der besondere Raum der Galerie Sigmund Freud spricht für sich und für dieses Genre der Kunst“.
Die 10 Künstlerinnen und 14 Künstler der Ausstellung
Laila Bachtiar (Österreich), Thérèse Bonnelalbay (Frankreich), Johann Fischer (Österreich), Franz Gableck (Österreich), Jill Galliéni (Frankreich), Johann Garber (Österreich), Madge Gill (Vereinigtes Königreich), Martha Grunenwaldt (Belgien), Johann Hauser (Österreich), Gertrude Honzatko-Mediz (Österreich), Josef Hofer (Österreich), Franz Kamlander (Österreich), Johann Korec (Österreich), Latefa Noorzai (Afghanistan/USA), Misleidys Castillo Pedroso (Kuba), Marilena Pelosi (Brasilien/Frankreich), Michaela Polacek (Österreich), Heinrich Reisenbauer (Österreich), Karl Reisenbauer (Österreich), Philippe Saxer (Schweiz), Takuya Tamura (Japan), Oswald Tschirtner (Österreich), Karl Vondal (Österreich), August Walla (Österreich)
Eröffnung: 21. Juni 2023, 19 Uhr
Musik
Sandy Lopičić & Vesna Petković
Worte
22. Juni bis 20. September 2023
Öffnungszeiten:
Montag bis Freitag, 10 bis 15 Uhr (ausgenommen Feiertage)
Galerie Sigm. Freud
LKH Graz II, Standort Süd, Wagner-Jauregg-Platz 1, A-8053 Graz
Eine Kooperation zwischen der Steirischen Kulturinitiative, Hannah Rieger und der Galerie Sigm. Freud.